Abdi M. ist jung, selbstbewusst, ehrgeizig, spricht fließend deutsch. Und Abdi ist allein in Deutschland: Vor vier Jahren sah der heute 21-Jährige seine Familie das letzte Mal. Wie er haben alle seine Angehörigen die syrische Heimat in der Nähe der Stadt Aleppo verlassen müssen; er ist der einzige unter ihnen, der in der Bundesrepublik auf seine Asylbescheinigung wartet – seit fast einem Jahr.

Im Interview, das wir mit Abdi anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni geführt haben, berichtet er von seiner beschwerlichen Odyssee durch Europa, von der Selbstverständlichkeit, die deutsche Sprache zu erlernen, und von seinen Träumen und Zielen, die er in der „neuen Heimat“ unbedingt erreichen möchte.

Abdi, Du bist seit 11 Monaten in Deutschland. Wie beschwerlich war Deine Flucht nach Europa, nachdem in Syrien der Bürgerkrieg entbrannt war?

Das ist eine lange Geschichte. Im Libanon hatte ich schon ein Jahr Politikwissenschaft studiert, als mein Visum auslief und ich zurück nach Syrien musste. Der Krieg war schon ausgebrochen. An der Grenze wurde ich verhaftet, weil ich mich durch mein Studium der Armee entzogen hatte. Nach zwei Monaten gelang mir die Flucht in die Türkei, dort konnte ich aber ohne Papiere auch nicht länger bleiben, obwohl ich eigentlich wollte. Die nächste Station hieß Bulgarien, wo ich acht Monate auf der Straße lebte. Ich wusste: Hier muss ich so schnell wie möglich wieder weg.

Warum? Was hast Du dort erfahren?

Wirklich sehr schlimm! Die Flüchtlinge, die dort festsitzen, haben so gut wie nichts. Sie leben entweder in menschenunwürdigen Kasernenbaracken oder einfach auf der Straße, so wie ich. Dort habe ich hungerleidende Kinder gesehen, die Müll von der Straße sammeln. Die bulgarischen Behörden kümmern sich so gut wie gar nicht um sie. Man bekommt nur 20 Euro pro Monat, aber wie soll man damit überleben? Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe.

Wie hast Du das Land wieder verlassen können?

Ich ließ mir Unterlagen und Flugtickets in die Niederlande besorgen. Hier wollte man mich aber wieder nach Bulgarien zurückschicken, weil meine Fingerabdrücke dort aufgenommen worden waren. Das gleiche in Schweden und anschließend in Finnland. Ich war sehr frustriert und verzweifelt, bis mir ein syrischer Bekannter, der in Deutschland lebt, den Rat gab, es in Deutschland zu versuchen. So kam ich im Sommer 2014 mit dem Zug und Bus nach Hannover.

Darf ich fragen, ob Du noch Kontakt zu Deiner Familie hast und ob Du weißt, wie es ihr geht?

Niemand aus meiner Familie lebt noch in Syrien, wir mussten alle flüchten. Meine Eltern leben im Libanon, meine Schwester in der Türkei. Zwar sind meine Eltern unversehrt, aber meine Mutter geht es schlecht. Sie kann nicht verstehen, warum ich so lange in Deutschland bin und nicht zu ihr kommen kann. Früher hatten wir größere Ländereien mit vielen Oliven- und Aprikosenbäumen, auch ein großes Haus. Der Krieg hat aber alles kaputt gemacht, wir haben alles verloren! Meine Familie habe ich seit über vier Jahren nicht mehr gesehen.

Wie bist Du dann hier in Hannover angekommen?

Zuerst war ich in Friedland (Anm.: eine von vier Erstaufnahmeeinrichtungen in Niedersachsen) und habe dort meinen Asylantrag gestellt. Nach etwa zwei Wochen bin ich dann nach Hannover gekommen. In der MHH kümmerte man sich zuerst psychologisch um mich. Dann wohnte ich für einige Monate im Flüchtlingswohnheim am Döhrener Turm, bevor ich in eine eigene kleine Wohnung ganz in der Nähe ziehen konnte. Da fühle ich mich ganz wohl.

Wie kann ich mir den Austausch unter den Flüchtlingen im Heim vorstellen? Erzählt man sich seine Geschichten und Schicksale oder behält man das eher für sich?

Das kommt auf jeden Einzelnen an, glaube ich. Für mich ist meine Geschichte eigentlich Privatsache. Die Bewohner des Heims wissen meist nicht mehr über mich als meinen Namen. Ich vertraue mich nicht jedem an, das fällt mir schwer.

Auch wenn Du das Lob sicher schon oft bekommen hast: Du sprichst unglaublich gut Deutsch für jemanden, der erst 11 Monate im Land ist. Wie hast Du das geschafft?

Ich habe sofort mit einem Intensivkurs angefangen, der geht von 9 bis 13 Uhr, jeden Tag, daneben noch der normale Sprachkurs. Zurzeit besuche in den C1-Kurs. Um studieren zu können, werde ich wohl auch noch den C2-Test machen. Kurz nach meiner Ankunft im Flüchtlingswohnheim bin ich zum Bildungsverein gegangen und habe mich nach einem Deutschkurs erkundigt. Die Wohnheimsleitung hat mich dabei von Anfang an unterstützt und die Sprachkurse finanziert. Wenn man Menschen hat, die einem helfen, ist das sehr gut. Ich habe z.B. einen Lernpaten, ein pensionierter Lehrer aus der Kirchengemeinde, der mir viel beigebracht hat.

Diese Hilfe ist sicher enorm wichtig. Aber Du hast dich offensichtlich auch selbst sehr ins Zeug gelegt.

In den ersten Monaten habe ich meine restliche Freizeit in Bibliotheken verbracht und mich durch Bücher gekämpft und Vokabeln auf Kärtchen geschrieben. Das war hart. Deutsch ist keine leichte Sprache. Aber wenn man ein Ziel und einen starken Willen hat, schafft man alles.

Sprache ist bekanntlich der Schlüssel dafür, im neuen Land zurechtzukommen und Fuß zu fassen. Aber das ist vielleicht oft leichter gesagt als getan. Deinen Ehrgeiz und Willen finde ich deshalb sehr bemerkenswert.

Danke. Aber ich wusste immer: Zuerst muss ich die Sprache beherrschen, wenn ich eine Chance in diesem Land bekommen sollte. Vielleicht wird Deutschland meine neue Heimat. Dann möchte ich die Regeln und die Menschen hier verstehen – und sie sollen mich verstehen. Ansonsten würde ich mich nicht in die Gesellschaft integrieren können, sondern außen vor bleiben. Ich habe große Ziele hier, die ich erreichen möchte.

Welche sind das genau?

Ich möchte Journalismus studieren. Dazu brauche ich ausreichende nachgewiesene Deutschkenntnisse.

Warum Journalismus?

Viele Menschen in Deutschland und Europa sprechen von meinem Heimatland, wissen aber nicht viel darüber. Das kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Ich aber möchte später von meinem Land und vom Leid der Menschen dort und der Flüchtlinge hier erzählen können, der ganzen Welt. Ob über Texte oder TV-Dokumentationen – dafür muss ich die Techniken beherrschen. Ohne Stipendium wird das wohl nicht möglich sein. Vielleicht gelingt es mir, ein solches zu bekommen.

Was wünschst Du Dir ganz persönlich von Deutschland als Einwanderungsland?

Als aller erstes natürlich, dass ich Asyl erhalte und nicht länger ohne Papiere hier leben muss. Ich weiß nicht, was die Ausländerbehörde von mir noch braucht, weil ich alle Dokumente schon bei meiner Ankunft abgegeben hatte. Das dauert alles sehr lange.

Es gibt viele Menschen in Deutschland, die sich um Flüchtlinge wie mich kümmern. Manche andere jedoch sind aber nicht offen genug, das ist mein Eindruck. Sie scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, dass Ausländer Teil der Gesellschaft sind. Und sie verstehen manchmal nicht, warum Flüchtlinge in Deutschland Schutz suchen und welche Schicksale sie ertragen mussten.

Auch das ganze Asylsystem in Europa ist schlecht. Wie kann es sein, dass ich immer wieder nach Bulgarien zurückgeschickt werden sollte? Ich habe ja keine Fehler gemacht. Ich möchte selber entscheiden, wo ich lebe.

Was bedeutet für Dich „Heimat“?

(Abdi überlegt länger) Das klingt vielleicht verrückt, aber Syrien ist nicht mehr meine Heimat, weil ich kein Heim mehr habe. Zur Heimat gehören auch meine Familie und die Menschen von früher. Auch die sind nicht mehr dort.

Ich denke, dass Deutschland meine neue Heimat werden kann, wenn ich mich anstrenge und mir die Chancen dazu gegeben werden. Ich habe schon einen besten Freund und lerne ständig neue Leute kennen. Sie sind schon Teil meines neuen Lebens. Sie machen mir große Hoffnung.

Abdi, ich wünsche Dir auf Deinem weiteren Weg alles Gute und danke Dir für das Gespräch.

Das Interview mit Abdi M. führte Roland Hiemann, Wahlkreisbüro Doris Schröder-Köpf.

*Der Name des Gesprächspartners wurde auf eigenen Wunsch anonymisiert.