Interview zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2014 mit Frau Renée Bergmann und Elvira Hendricks vom „Unterstützerkreis Flüchtlingsunterkünfte Hannover e.V.“

Norman Ilsemann: Guten Tag Frau Hendricks, guten Tag Frau Bergmann. Sie sind beide bereits seit vielen Jahren in der Flüchtlingsarbeit tätig – wie hat alles angefangen?

Frau Bergmann: Ich bin als Ehrenamtliche in diesen Bereich eingestiegen und zwar habe ich im September 2012 den ersten Kontakt mit einem Flüchtlingswohnheim aufgenommen. Ich habe mich damals entschlossen, dass ich mich in dieser Thematik stärker engagieren möchte, um die Menschen mit ganz praktischer Hilfe vor Ort zu unterstützen. Die konkrete Arbeit hat dann mit der Gründung des Vereins im April 2013 begonnen. Der Unterstützerkreis besteht nun seit etwas mehr als einem Jahr, wir haben mittlerweile 41 Mitglieder und insgesamt ca. 170 „Freunde des Vereins“, ein guter Hinweis darauf, wie wichtig das Thema hier in Hannover genommen wird.

Frau Hendricks: Ja, wie bin ich dazu gekommen? Im Rahmen meiner Arbeit als Sozialarbeiterin in einem Flüchtlingswohnheim lernte ich Frau Bergmann kennen. Sie hat sich genau wie ich über die ablehnende Haltung einiger Bürger zur Eröffnung eines Flüchtlingsheims aufgeregt. Nach und nach entstand dann die Idee, einen Verein zu gründen.

Norman Ilsemann: Leider steigen die Flüchtlingszahlen immer weiter an. Große Krisenherde, wie in Syrien, Nigeria oder Somalia veranlassen täglich neue Menschen zur Flucht. Einige von ihnen werden auch nach Niedersachsen und nach Hannover kommen. Wie kann man diesen Menschen konkret helfen? Wie geht der Unterstützerkreis vor?

Frau Bergmann: Der Verein hat sich vorgenommen, sogenannte Nachbarschaftskreise zu initiieren oder bestehende Nachbarschaftskreise zu vernetzen. Das bedeutet, dass wir versuchen, für jedes Flüchtlingswohnheim, welches bereits besteht beziehungsweise geplant ist, Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft eines Flüchtlingswohnheims zu gewinnen, um die Bewohner dort zu unterstützen. Wir sind der Auffassung, dass die Nachbarn im direkten Umfeld viel besser Bescheid wissen über Sport- und Vereinsmöglichkeiten und über die Dinge des alltäglichen Bedarfs. So wollen wir die Personen, welche die Flüchtlinge ganz direkt unterstützen können, ansprechen und versuchen einen ersten Kontakt zwischen den Nachbarn und den Flüchtlingen herzustellen.

Norman Ilsemann: Frau Hendricks fällt Ihnen eine konkrete Hilfe vor Ort ein?

Frau Hendricks: Eine konkrete Hilfe ist zum Beispiel die Begleitung zu Behörden. Es ist einfach so, dass das deutsche Behördensystem sehr kompliziert ist und in den Ländern, aus denen viele Flüchtlinge kommen, so auch nicht vorhanden ist. Da gehen wir gerne mit und helfen z. B. bei der Bearbeitung von Formularen, die ja meistens nur in Deutsch zur Verfügung stehen.

Frau Bergmann: Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir den Deutschunterricht in den Heimen fördern, weil wir der Auffassung sind, dass das Erlernen der Sprache ein sehr wichtiger Schritt ist, um sich in unsere Gesellschaft zu integrieren und an ihr teilzuhaben.

Frau Hendricks: Wir vermitteln auch Patenschaften, z.B. für Sprachpaten, Spielpaten, Hannover-Kennenlern-Paten oder auch Lernpaten. Diese Patenschaften können auch über die Zeit in den Flüchtlingswohnheimen hinausgehen, denn mit dem Einzug in eine eigene Wohnung sind die Probleme ja noch nicht alle gelöst, manche fangen dann sogar erst an.

Norman Ilsemann: In Hannover wird derzeit viel über neue Flüchtlingswohnheime gesprochen. Wie müsste ein gutes und menschengerechtes Unterbringungskonzept ihrer Meinung nach aussehen?

Frau Hendricks: Ich finde, dass das Konzept von Hannover auf einem sehr guten Weg ist. Die Häuser sind relativ klein und sind über die ganze Stadt verteilt. Der neuste Beschluss, dass auch diese Häuser mit mindestens 1,5 Sozialarbeiterstellen versorgt werden sollen, ist sehr begrüßenswert. Insbesondere gefällt uns, dass es in Hannover im Bereich der Unterbringungen drei Säulen gibt: Wohnprojekte, wo Flüchtlinge im eigenen Wohnraum untergebracht sind, Flüchtlingswohnheime und die dezentrale Unterbringung. Hannover macht da einen guten Job, das könnte sicherlich auch bundesweit Modellcharakter haben.

Norman Ilsemann: Sie werden sicherlich nicht nur auf Unterstützer und Unterstützerinnen stoßen. Die Vorurteile und Bedenken sind manchmal sehr groß und einige Bürgerinnern und Bürger werden Ihnen gegenüber auch ihr Unwohlsein bekunden. Gut wurde dies vor rund zwei Jahren bei dem Flüchtlingswohnheim in Kirchrode gelöst, wo Nachbarn und Bewohner des Flüchtlingswohnheims in der ersten Stunde zusammenkamen, um sich auszutauschen. Heute leben beide Parteien friedlich und sehr eng miteinander. Ist dies ein Konzept, das in dieser Form kopiert werden kann, oder vielleicht sogar kopiert werden sollte?

Frau Bergmann: Ja! Es ist ein Konzept mit dem wir wirklich sehr gute Erfahrungen gemacht haben. In Kirchrode wurde in Zusammenarbeit mit dem Bezirksbürgermeister, der Heimleitung und uns als Unterstützer eine Informationsveranstaltung durchgeführt, zu der die Nachbarn mit einem persönlichen Schreiben des Bezirksbürgermeisters eingeladen wurden. Dort entstand ein sehr guter Austausch und am Ende dieser Veranstaltung kamen viele Bürgerinnen und Bürger auf uns zu, um mit uns zusammen einen Nachbarschaftskreis zu gründen. Deswegen denke ich auch, dass wir eine sehr gute Entwicklung hier in Hannover haben. Wir als Unterstützerkreis werden sehr oft von den Bezirksräten oder den Integrationsbeiräten eingeladen, um über unsere Erfahrungen zu berichten. Und können so darauf hinweisen, dass es besonders gut ist, wenn man sehr frühzeitig auf die Nachbarschaft zugeht, denn nur durch große Offenheit und Transparenz kann eine wirkliche Vertrauensbasis zwischen Heimbewohnern und Nachbarn geschaffen werden.

Norman Ilsemann: Demnach ist der Unterstützerkreis auch ein aktiver Impulsgeber in Hannover geworden?

Frau Hendricks: Das kann man so sagen! Wir werden sehr häufig eingeladen, manchmal sogar schon zu häufig. Wir wissen manchmal gar nicht mehr, wohin mit den ganzen Terminen, aber wir machen es gerne! Es hat sich gezeigt, dass sich durch solche Veranstaltungen und das Ernst nehmen der Ängste der Menschen Ablehnung in Zustimmung umwandelnd lässt. Ich finde, dass ein „nicht Ernst nehmen“ von Ängsten oder ein Stigmatisieren von Ängsten der Bevölkerung in der Nähe eines Flüchtlingswohnheims in die falsche Richtung gehen würde. Ich kann es verstehen, dass zunächst erst einmal Angst aufkommt, weil Fremdes häufig Angst macht und Veränderungen nicht oft gewünscht werden. Es ist aber falsch, die Leute dann direkt in eine Art Ausländerfeindlichkeit zu stecken. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ganz oft Leute, die am Anfang einer solchen Informationsveranstaltung gegen das Haus waren, am Ende ihre Unterstützung angeboten haben.

Norman Ilsemann: Sie haben mir gegenüber schon öfter erwähnt, dass die Nachbarn zum Teil sogar Fahrräder vorbeibringen oder Deutschkurse geben.

Frau Hendricks: Gerade in Kirchrode waren die Nachbarn sehr aktiv. Die Nachbarn haben Fahrräder vorbeigebracht, Kochkurse angeboten, eine ehemalige Krankenschwester hat Babypflege mit den Müttern gemacht und ehemalige Lehrerinnen haben Deutschkurse angeboten. Das ist natürlich auch immer von den Nachbarn abhängig und nicht jedes Flüchtlingswohnheim hat das Glück, in solch einer Nachbarschaft zu leben. Es gibt auch Flüchtlingswohnheime, die haben auf der einen Seite ein altes Zementwerk und auf der anderen Seite einen großen Lebensmittelladen. Das ist ein anderes Umfeld - da müssen wir andere Wege finden.

Frau Bergmann: Andere Wege, die wir auch schon gefunden haben! In einem Fall war es zum Beispiel so, dass wir durch die Vereinsmitglieder beziehungsweise diejenigen, die bei uns engagiert sind, einen „Nachbarschaftskreis“ für ein Flüchtlingswohnheim bilden konnten, obwohl keine direkten Nachbarn vorhanden waren.

Ich würde gerne einen Punkt noch einmal kurz aufgreifen, und zwar den mit den Fahrradspenden. Das ist eine sehr gute Aktion, die wir schon seit Langem verfolgen. Wir haben jetzt sogar in zwei Heimen Fahrradwerkstätten eingerichtet. Diese werden von Vereinsmitgliedern betreut und in Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen betrieben. Die gespendeten Fahrräder werden dort repariert und wieder hergerichtet und anschließend den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Diese Fahrradspenden sind sehr wichtig, weil für die Flüchtlinge das Thema Mobilität ein sehr zentrales Problem darstellt. Die erforderliche Mobilität, die sie z.B. benötigen, um ihre Deutschkurse zu erreichen, ist für Flüchtlinge insofern schwieriger zu erlangen, weil sie nur wenig Geld zur Verfügung haben und nicht ohne weiteres Fahrkarten kaufen können.

Norman Ilsemann: Das Motto des Weltflüchtlingstages 2014 lautet: "Jeder Flüchtling hat eine Geschichte". Demnach soll besonders auf die Erlebnisse von Flüchtlingen eingegangen werden. Welche Erfahrungen haben sie mit Flüchtlingen gemacht, die nach Niedersachsen gekommen sind. Wo müssen diese noch Hürden überwinden, die andere Menschen in der Art und Weise nicht haben?

Frau Hendricks:. Mit allen unseren kleineren Nörgeleien leben wir hier ja dennoch ein sehr sicheres und komfortables Leben. Jemand der seine Zelte abbaut, der hat seinen Grund. Das macht man nicht aus Spaß und das macht man auch nicht wegen der Sozialhilfeleistungen, die man in der Bundesrepublik bekommt. Viele Menschen sind traumatisiert und haben Sachen erlebt, die wir hoffentlich so niemals erleben werden. Sodass man davon ausgehen kann, dass ungefähr ein Drittel der Flüchtlinge schwerst traumatisiert ist. Wenn man sich die Bilder aus Syrien anguckt, dann kann man sich auch vorstellen warum. Das ähnelt sehr dem Hannover der Nachkriegszeit. Das ist die eine Seite und auf der anderen Seite kommen viele Flüchtlinge aus Ländern, wo Polizei und Militär nicht immer der "Freund und Helfer" sind, der sie sein sollten. Ich habe erlebt, dass ein Flüchtling, nur weil der Kontaktbeamte des Flüchtlingswohnheimes das Wohnheim betreten hat, aus dem Fenster des ersten Stock gesprungen ist und sich den Arm gebrochen haben. Das liegt daran, dass sie die Polizei als etwas Schlimmes in ihrem Heimatland kennengerlernt haben. Es gibt manchmal auch kulturelle Unterschiede, so habe ich erlebt, wie Leute aus Somalia noch nie in ihrem Leben auf einer Rolltreppe gestanden haben und alles wollten, nur nicht auf die Rolltreppe gehen. Dann gibt es aber auch sehr gebildete Flüchtlinge, oftmals aus dem Iran oder Irak, die in ihren Heimatländern relativ wohlhabende Leute sind. Diese Menschen sind nicht, wie oft unterstellt, aus dem Wunsch nach der finanziellen Sicherheit unseres Sozialsystems geflohen. Sie sind geflohen, weil sie sich den Luxus einer freien Meinung geleistet haben. Wenn man sich vorstellt, wie man sich selber fühlen würde, wenn man von heute auf morgen in einem Land mit einer fremden Kultur leben müsste, dann kann man sich ungefähr vorstellen, welch eine Umstellung das sein muss und welche Erfahrungen die Flüchtlinge gemacht haben. Und jetzt denken sie an die Flüchtlinge hier vor Ort, die müssen hier mit einer anderen Sprache klar kommen, mit den Behörden und der Tatsache, dass es andere Gepflogenheiten gibt. Die Flüchtlinge müssen viele Dinge von Anfang an wieder lernen, für sie ist hier alles neu und das mit der Erfahrung von Flucht und dann zum Teil traumatisiert und mit einem unsicheren Aufenthaltstitel.

Norman Ilsemann: Kann man sagen, es sind vor allem alltägliche Barrieren, die ein Flüchtling hier überwinden muss?

Frau Bergmann: Es gibt schon viele alltägliche Ängste. So zum Beispiel, die Stadt für sich zu erkunden. Wir sind zum Beispiel einmal mit Flüchtlingen ins Rathaus gegangen, weil sie es nicht kannten. Sie kennen oftmals zwar ihre Wege zum Beispiel zur Ausländerbehörde und die Wege, die sie täglich gehen, aber viel weiter gehen ihre Kenntnisse dann oftmals nicht, weil es für sie eine wirklich fremde Kultur ist. Und bei genau diesen kleinen Schritten fängt es ja an.

Frau Hendricks: Oder wir hatten fünf junge Afghaninnen mit denen eine Sozialarbeiterin in den Georgengarten gegangen ist. Und dort lagen dann sehr spärlich bekleidete junge Männer, also das war das Kulturerlebnis schlechthin für die afghanischen Frauen. So etwas hatten sie zuvor so noch nicht gesehen.

Norman Ilsemann: Zum Schluss würde ich Sie bitten, dass sie uns mitteilen, wo Sie noch Nachholbedarf sehen. Beziehungsweise bereits spürbare Fortschritte in den letzten zwei Jahren erlebt haben.

Frau Bergmann: Ein sehr großes Feld. Ich fang mal mit einem Projekt an, in dessen Rahmen wir Berufsausbildungs- und Praktikumsplätze für Flüchtlinge suchen. Wir sind der Auffassung, dass die Flüchtlinge in unserer Gesellschaft gerne ankommen und arbeiten möchten. Dabei wollen wir sie unterstützen. Ein wichtiger Weg ist, dass sie zunächst Praktikumsplätze bekommen, denn so kann man am besten einen Kontakt zu Firmen und Betrieben finden und den Berufsalltag in Deutschland kennenlernen. Das Gleiche betrifft die Ausbildungsbetriebe, denn eine Ausbildung dürfen Flüchtlinge sogar ab dem ersten Tag ihres Hierseins machen. Deshalb haben wir vor kurzem Kontakt mit der Handwerkskammer aufgenommen. In einem ersten Schritt sollen zunächst die Zeugnisse, die von den Flüchtlingen mitgebracht werden, anerkannt werden. Wir halten es für sehr sinnvoll, diesen Weg zu bestreiten und noch stärker zu fördern.

Frau Hendricks: Besonders wichtig werden darüber hinaus immer Sprachkurse sein. Es wird für Flüchtlinge jedoch immer schwieriger einen Sprachkurs zu bekommen. Die noch nicht anerkannten Flüchtlinge wollen diese oftmals selber zahlen, aber es gibt nicht genug Plätze. Es müsste also mehr Sprachkurse geben.

Generell müsste es in den Betrieben bekannt gemacht werden, dass Flüchtlinge eine Ausbildung anfangen dürfen, auch wenn sie einen ungeklärten Aufenthaltstitel haben. Auch wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen sich geändert haben, so wissen es aber die wenigsten Arbeitgeber. Es muss einfach mehr Aufklärungsarbeit für die Arbeitgeber geben, damit sie über diese Möglichkeit Bescheid wissen. Es wird ja oft gesagt, dass viele Ausbildungsberufe keine Auszubildenden mehr finden. Es wäre ganz wichtig, dass sich in diesem Bereich etwas tut.

Norman Ilsemann: Sehr geehrte Frau Hendricks, sehr geehrte Frau Bergmann vielen Dank für das sehr informative Interview.