Doris Schröder-Köpf im niedersächsischen Landtag über den europäischen Beitrag zur Seenotrettung im Mittelmeer

Seit Jahresbeginn sind etwa 1800 Menschen auf ihrer Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Die Marinen und Küstenwachen einiger europäischer Staaten beteiligen sich mittlerweile an Seenotrettungsaktionen. Die Bundeswehr hat die Fregatte „Hessen“ und den Einsatzgruppenversorger „Berlin“ ins Mittelmeer entsendet und am 8. Mai 2015 419 Flüchtlinge an Bord genommen und sicher ans italienische Festland gebracht.

Vor diesem Hintergrund haben die Fraktionen von SPD und Grünen am 12. Mai den Antrag „Seenotrettung jetzt – Konsequenzen aus Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer ziehen“ in den niedersächsischen Landtag eingebracht. Darin werden Bundesregierung und die Europäische Union aufgefordert, sich für eine konzertierte europäische Seenotrettungsmission auf dem Niveau der 2014 ausgelaufenen italienischen Operation „Mare Nostrum“ einzusetzen.

In ihrem eindringlichen Plädoyer für den Antrag (als Video sowie im Wortlaut unten) appellierte die Landtagsabgeordnete Doris Schröder-Köpf vor allem an die gemeinsame Verantwortung Europas, weiteres Massensterben im Mittelmeer zu verhindern.



Rede der Landtagsabgeordneten Doris Schröder-Köpf zum Antrag „Seenotrettung jetzt – Konsequenzen aus Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer ziehen“ im niedersächsischen Landtag, Hannover, 12.05.2015

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Präsident!

Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wie gut, dass es die „Hessen“ und die „Berlin“ gibt. Am vergangenen Freitag haben die Fregatte „Hessen“ und der Einsatzgruppenversorger „Berlin“ der Bundeswehr erstmals Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet: 419 Menschen. Ich möchte aus diesem Anlass aus einer offiziell zugänglichen Schilderung des Einsatzkommandos der Bundeswehr zitieren:

„Dieses Gefühl der Sicherheit, das sie an Bord des deutschen Schiffes direkt eingenommen hatte, gegen diese pure Lebensangst zuvor, bestimmt von den Gefahren, die auf dem langen Weg (...) auf sie lauerte und die tiefe Angst, dass ihre Familien auseinandergerissen werden könnten, wenn die Nussschalen auf See kentern. Rund 3.000 Euro hatten sie und ihre zurückgebliebenen Familienangehörigen zusammengekratzt, die in die Hände der Schlepper an Land und See geflossen waren, gegen ein Versprechen, für das es kein Dokument gab und keine Erfolgsgarantie.“

Der Kommandeur der Task Group Seenotrettung, Kapitän zur See Andreas Seidl, der mit seinen beiden Schiffen nach gelungener Rettungsaktion den Hafen von Reggio di Calabria angelaufen hatte, sagte anschließend zum Rettungseinsatz: „Es war unsere seemännische Pflicht.“

Sehr geehrte Damen und Herren,

in nur fünf Worten hat Kapitän Seidl alles gesagt. Es ist unser aller Pflicht, den schiffbrüchigen Flüchtlingen zu helfen!

Deutschland hat sich spät – ich sage: sehr spät – dazu entschlossen, wie Großbritannien in einer Art Koalition der Freiwilligen in Operationen vor der libyschen Küste auf der Grundlage des Seerechts zu helfen. Wie lange genau die deutschen Schiffe im Einsatz bleiben und ob ihr Einsatz doch noch einen offiziellen Titel erhält, ist noch unklar. Dieser erste Hilfseinsatz läuft wohl am 19. Juni aus, wenn die „Hessen“ und die „Berlin“ in Wilhelmshaven eintreffen.

Wie aus Kreisen der Bundeswehr zu erfahren ist, befinden sich Nachfolgeeinheiten in Planung.

In den Beschreibungen der deutschen Soldatinnen und Soldaten ist das Mitgefühl zu spüren. 419 Männer, Frauen und Kinder gerettet – das lässt niemanden unberührt. Aber am Wochenende zuvor hatte die italienische Marine mehr als 5.800 Flüchtlinge gerettet: 3.700 am Samstag, 2.100 am Sonntag, darunter ein Neugeborenes. Mehrere Flüchtlinge konnten nur noch tot geborgen werden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit Jahresbeginn sind etwa 1.800 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ums Leben gekommen. Allein in der Nacht des 18. April starben 900 Menschen auf der Suche nach Schutz in Europa 130 km vor der libyschen Küste, weil Hilfsschiffe nicht rechtzeitig eintrafen. Seit Jahresbeginn nahmen allein deutsche Handelsschiffe mehr als 5.000 Menschen auf. Ralf Nagel, geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Verbandes Deutscher Reeder, spricht von einem rapiden Anstieg der Flüchtlingsüberfahrten seit März. Deutsche Handelsschiffe hätten – ich zitiere – „mittlerweile täglich solche Rettungsaktionen“.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es kann doch nicht wahr sein, dass wir Matrosen deutscher Handelsschiffe die Aufgabe überlassen, massenhaft Menschenleben zu retten! Es ist doch eine europäische Aufgabe, in unserem Meer – „mare nostrum“ – das Massensterben zu verhindern.

In dem Antrag „Seenotrettung jetzt – Konsequenzen aus Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer ziehen“ fordern die Fraktionen von SPD und Grünen die Landesregierung daher auf, sich gegenüber der Bundesregierung und der Europäischen Union dafür einzusetzen, nicht länger schwerpunktmäßig auf Grenzkontrollmaßnahmen zu setzen. Stattdessen soll sofort eine europäische Initiative zur Seenotrettung auf dem Niveau der italienischen Seenotrettungsmission „Mare Nostrum“ gestartet werden, die gesamteuropäisch organisiert und finanziert wird.

Sehr geehrte Damen und Herren, das wäre dann „Erste Hilfe“. Aber wie können wir mittel- und langfristig helfen? Menschen, die sich in einer lebensbedrohlichen Situation befinden, können sich fast nie auf legalem Weg in Sicherheit bringen.

Um in Europa Asyl zu beantragen, muss man nach Europa kommen. Aber Visa werden in Krisengebieten kaum ausgestellt, nicht zuletzt, weil die Antragstellerinnen und Antragsteller häufig die geforderten Sicherheiten nicht bieten können.

Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hat die Zahl der Schengen-Visa verglichen, die in Syrien vor und nach Beginn des Bürgerkriegs ausgestellt wurden. 2010 wurden in Syrien noch rund 35 000 Schengen-Visa ausgestellt. 2013 lag die Zahl praktisch bei null.

Ich bin davon überzeugt, dass das Instrument der humanitären Visa stärker genutzt werden muss. Schutzsuchende sollten in den Botschaften der EU-Mitgliedstaaten Visa beantragen und sich vor Ort für ein Asylverfahren registrieren lassen können. Dazu müssen u. a. humanitäre Aufnahmeprogramme und das Resettlement-Programm der Vereinten Nationen ausgebaut werden, damit Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, nicht auf die lebensgefährliche Mittelmeerüberquerung mit Hilfe von Schleppern angewiesen sind.

Ein wirklich einfaches und schnell wirksames Instrument wäre die Erweiterung der Familienzusammenführung. Ich möchte dazu ein Beispiel aus meinem Büro vom gestrigen Tag schildern. Ein anerkannter syrischer Asylberechtigter, Herr O., ein Ingenieur, der seit einem Jahr in Niedersachsen lebt, konnte im Rahmen des Familiennachzugs im Visumverfahren seine Frau und die minderjährige Tochter mit dem Namen Rand nachholen. Da sich der Familiennachzug nach dem Aufenthaltsgesetz grundsätzlich nur auf Ehegatten und minderjährige Kinder bezieht, wurden die Visaanträge für die allein lebenden, 1995 und 1996 geborenen Töchter Reem und Rama abgelehnt. Wie grausam!

Ich bitte auch Sie, geschätzte Kolleginnen und Kollegen von der CDU: Lassen Sie uns – wir sind schon im Gespräch – gemeinsam in Berlin vorstellig werden, um wenigstens beim Familiennachzug schnell großzügigere Regelungen zu erreichen!

Sehr geehrte Damen und Herren,

zudem muss unserer Ansicht nach das Dublin-System geändert werden. Legale und geschützte Einreisemöglichkeiten müssen im Rahmen eines Einwanderungsgesetzes ausgebaut werden. Wir haben bei der letzten Plenarsitzung in diesem Haus darüber gesprochen und eigentlich eine große Einigkeit festgestellt.

Selbstverständlich muss auch über friedens- und entwicklungsfördernde Strategien in den Herkunfts- und Transitländern gesprochen werden und über eine vernunftgeleitete Außenpolitik der einzelnen EU-Staaten, die – anders als im Falle Libyens 2011 – nicht „Failing States“ herbeibombt, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

Aber die Menschen warten jetzt an den Küsten Nordafrikas auf die Überfahrt in den vermeintlich sicheren Hafen Europa. Sie besteigen jetzt die Boote, die zu Recht Seelenverkäufer genannt werden. Lassen Sie uns deshalb jetzt helfen!

Allein 2014 hat die nach dem Unglück von Lampedusa von Italien gestartete Operation Mare Nostrum 100.000 Menschen gerettet. Der Friedensnobelpreisträger Europa kann mehr.

Ich bitte Sie um Unterstützung für diesen Antrag.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.